30. Januar [1563], Heidelberg. Thomas Erastus an Heinrich Bullinger in Zürich (
Brief-ID 18570)
Seit Sommer 2020 können Interessierte die Online-Datenbank des Heidelberger Akademieprojekts „Theologenbriefwechsel“ erkunden. Der 1. Februar 2023 markiert nun einen gewichtigen Meilenstein: Mit dem vorliegenden wird der 10.000. (mit Regest versehene und durch Schlagworte inhaltlich erschlossene) Brief freigeschaltet. Bis zum Ende der Projektlaufzeit im Jahr 2031 wird die Zahl der erfassten Briefe auf ca. 35.000 ansteigen.
Der Brief, den Thomas Erastus (1524-1583) am 30. Januar 1563 aus Heidelberg an Heinrich Bullinger (1504-1575) in Zürich schrieb, ist geradezu exemplarisch für die im Rahmen des Projekts bearbeiteten Korrespondenzen: Er gibt nicht nur einen Eindruck davon, unter welchen Bedingungen das Medium Brief zum Einsatz kommt, sondern veranschaulicht auch die thematische Vielfalt frühneuzeitlicher Briefe im Allgemeinen und der Theologenbriefwechsel im Speziellen. Schließlich belegt er eindrucksvoll, dass es die Auswertung von Briefen erlaubt, allgemein- und konfessionsgeschichtliche Vorgänge genauer zu fassen. Der aus der Schweiz stammende Erastus war Mediziner und seit 1558 Professor an der Universität Heidelberg. Gleichzeitig war er Mitglied des Kirchenrats und eine in theologischen und konfessionellen Fragen einflussreiche Figur – und er unterhielt wichtige briefliche Kontakte, besonders ins reformierte Zürich.
Im vorliegenden Brief an Bullinger spricht Erastus eingangs ein recht profanes, aber elementares Problem an: die Frage nach der sicheren Beförderung von Briefen. Tatsächlich, so Erastus, hätten in letzter Zeit keine Boten zur Verfügung gestanden. Nun referiert er knapp seinen Vorschlag für den Transport von Briefen zwischen Zürich und Heidelberg und bittet um Bullingers Einschätzung dazu: Bullinger möge seine Briefe an Jakob Rüeger, Münsterpfarrer in Schaffhausen, senden, sofern dieser in der Lage ist, sie rasch nach Rottweil weiterzuleiten. Dort nämlich verfügt Kurfürst Friedrich III. über einen Mittelsmann, der für die Beförderung der Briefe nach Heidelberg sorgen könnte. Er selbst würde seine Briefe nach Rottweil schicken, wenn eine Weiterleitung nach Schaffhausen sichergestellt werden kann. Eindrücklich führt diese Passage die ganz konkreten Begleitumstände und Hürden brieflicher Kommunikation in der Frühen Neuzeit vor Augen, in einer Zeit also, in der sich eine flächendeckende postalische Infrastruktur erst noch herausbilden musste.
In der Folge berichtet Erastus knapp von diversen konfessionspolitischen Vorgängen, die von teilweise herausragender kirchengeschichtlicher Bedeutung sind: Zunächst unterrichtet er Bullinger von der unmittelbar bevorstehenden Drucklegung des überaus wirkmächtigen Heidelberger Katechismus. Als dessen Hauptverfasser gilt Zacharias Ursinus (1534-1583). Aufschlussreich ist nicht nur, wie Erastus den Katechismus charakterisiert – niemand wird den Heidelbergern Dissimulation vorwerfen können (
Nemo, arbitror, dicet aliquid a nobis dissimulari) –, sondern auch und vor allem, wie er seinen eigenen Anteil an der Entstehung beschreibt: Die im Katechismus
aperte et fuse (also offen und ausführlich) formulierte Sakramentenlehre lehne sich zum einen an ein bereits veröffentlichtes Werk an (
pro ratione propositi operis) – gemeint sein könnte Erastus’ eigener
Gründtlicher bericht über die Einsetzungsworte Christi beim Abendmahl von 1562 –; zum anderen habe sich Erastus der Arbeit am Katechismus schon lange voll und ganz hingegeben:
Iam diu in eo totus fui.
Sodann kommt Erastus auf die Pläne Kurfürst Friedrichs III. über die Einführung des Reformiertentums in der Oberpfalz zu sprechen. Konkret bittet er um Bullingers Meinung über den ehemaligen bayerischen Hofmarschall Pankraz von Freyberg, der u. a. aufgrund seiner reformatorischen Neigungen kurz darauf in Bayern wegen des Verdachts der Verschwörung angeklagt werden sollte. Friedrich III., so mutmaßt Erastus, erwägt, Freyberg die Leitung des Hofs seines Sohnes Ludwig zu übertragen, den er nach Amberg schicken will.
Es folgt ein durchaus polemischer Ausfall gegen den Jenaer Lutheraner Johannes Stössel. Dieser hatte im Juni 1560 mit dem Heidelberger Theologieprofessor Pierre Bouquin öffentlich über das Abendmahl disputiert; damals war Erastus seinem Kollegen Bouquin beigesprungen und hatte das reformierte Verständnis vertreten. Nun brandmarkt Erastus Stössel als falschen Höfling, als Fähnchen im Wind (
Ego hominem novi falsum et aulicum accomodantem se temporibus et locis), dem gleichzeitig sein verbohrter Hass gegen die Flacianer wichtiger ist als die Wahrheit.
Im Anschluss zeigt sich eine weitere entscheidende Dimension frühneuzeitlicher Korrespondenzen: Sie dienten nicht zuletzt dem Austausch und der Verifizierung von Nachrichten aus ganz Europa. In diesem Fall teilt Erastus – wenn auch unsichere – Informationen über den Verlauf des 1. Hugenottenkriegs in Frankreich (
De Gallicis rebus) mit. So soll etwa – nach der Schlacht bei Dreux vom 19. Dezember 1562 – der Hugenottenführer Admiral Gaspard de Coligny die Festung belagern, in der der Fürst von Condé, der zweite hugenottische Befehlshaber, vom katholischen Herzog von Guise festgehalten wird. Erastus glaubt dies allerdings nicht (
Fabulas puto). Englische Truppen sollen sich mit dem Admiral zusammengeschlossen haben; offenbar finden zudem Friedensverhandlungen statt. Falls Bullinger Neuigkeiten hat, so Erastus’ Bitte, möge er diese baldmöglichst mitteilen.
Das Ende des Briefes schließlich enthält u. a. eine für Erastus’ Korrespondenz einschlägige, ganz lebensweltliche Bitte: Bullinger möge veranlassen, dass der Zürcher Drucker Christoph Froschauer ihm guten Käse zukommen lässt; bezahlen werde ihn Erastus bei der kommenden Frankfurter Messe.
Max Graff