Katharina Zell an Martin Bucer und Paul Fagius

[Straßburg], 25. Mai 1549

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| 71r | Catharina Zellinn Bucero et Fagio.1

Der Herre Christus sig gelopt inn ewigkait, der uch noch siner liebe hat gefürt, biß dahin jhr begert und (als ich hoffe) eins gutten willens sint, jhm zu dienen. Lieben herren und brüder, ich hab üwereb brieff czuo ein molc2 empfangen,3 uff welche ich nit vil mit mund und feder antwurten kan, aber vil mehr mitd hertzen, das vil für üch büttet. Sunst bin ich also blöd4 und zerstört im haupt und ganzer natur, das ich nichts mehr schriben, reden noch schier5 wandlen kahn; ja, gar nichts bin ich, eweiß, heissee6 nichts, jn summa: Laßf7 bin ich. Der herr hat mich geschlagen, daß sint schwere streich8, die hant gottes züchtigetg mich; den9 bitten10 für mich armen, einigen11 und betriepten menschen.

Jhr schriben wol,12 das die ernd so groß und der arbeiter aber wenig sint13 und gotloß wesen darumben. Ach, ist sollichs nit auch by uns? Vil arbeiter, aber wenig verstendig und trüw.14 Sehend jhr uff uch selbst, die Zit und tag sint böß.15 Ach, das wir alle inn dem ersten yffer dahin gangen weren!16 Wie ist mir so angst, hwie wir wollenh zum ennd kommen mit nutz und heil. O wee des grossen verderbens viler! Ja frilich, wie jr schriben, sag ich auch offt: Hastu den die menschen umb sunst geschaffen? Ja, hettestu sy doch Erden17 lassen pliben, so wurde jhn doch nit so wee.18 Aber wer kan sinen fußstapfen nach gen jhm mehr19 und sine gedanken im himmel erforschen?20 Wer ein wort hat, so hat er21 tusent. Jhm sig22 eher und warheit und mir armen barmherzigkeit sampt seiner Kirchen, amen.

iMin schwager23 hat erfaren, das jr in mynem huß sint gewesen24, hat in seer uff mich vertrossen, das ichs jhm verhelet, sagt, er meynet, ich het imm mer vertrawet, ihr müsten herlicher gehalten und geletzt25 sein worden.i Jch dancke üch beyden üwer gruß und schribens. Jch bitt Gott immer für üch, vergessen myn auch nit. Die jhr inn mynem brieff grüßt haben, die grüssen uch auch alle frintlich widerumb, sonderlich myn schwager Symon, syn Hußfraw26, die üwer seer vil gedenkt, und kinderj. Sin Theoffilus27 ist nach langemk und schwerem leger28 genl himmel (wie ich hoff) gefaren; die mutter ist nit zu trösten, biten auch Gott für sy.

| 71v | Wie es sunst hie stöht, werden ir von herr Conradten29 und andern wol wüssen. Witer, jch hab uch anfangsm noch üwerem hinscheiden geschriben,30 wie jr mich betriept und zu myner schmach mirn gelt (mir doch gar unwissen gewesen) inn einem brieff gelossen, domit üwer wort recht standen, crützische myntz31, ihr haben mir ein Crütz am hertzeno gemacht, das ich nye gedacht habe, ein heller zu begeren, vil mynder zu nemen, das ich uch auch wie arme Pilgerp und myne geachte Predigkanten gehalten habe; ich weiß es und ir wüssens auch wol, das ich im etwan anders hät gethan. Matheus32 hat all myn kunst und fröwd hin weg mit jhm; uff das aber myn schamröte einesq theils hingelegt wurde, hab ich euch dise zwey stück goldts widderumb in disen Brief gewolt legen, wie Joseph sinen brüdern.33 Do ist ein verjagter Predigkant mit fünff Kindern zu mir kummen und eins Predigkanten frow, derenr hat man irem mann den Kopff abgeschlagen vor jren Augen;34 die hab ich zwen tag by mir gehebt und diß ein stück goldts disen beiden zur zerung von üweren wegen geschenkt und sden anderens35 uch widerumb inn disen brieff gethon, dennt jr selber sollen bruchen und ein andermal nit so gydig36 sin, ir werden noch vil dörffen37, auch euer volk38, sollen sy hinnoch kumen. Und sint39 also Gott befolen in sinen schutz und schirm ewigklich wider alle sine und ewere fünd. Amen.

Grüssent mir gantz früntlich den lieben herren Valerandus40 und danken ihm sins gruß, das er myn ingedenk ist. Der Herr Christus gedenk sin und aller, die in lieben allzit, amen. Docter Peter Martyren41 grüssent mir auch frintlich und sin guteu frau42. Gott wölle üch allen sin geist verlihen zu thun und handlen zu siner eher und nutz siner armen Kirchen und schefflin. Amen.

Katharina Zellin, die ewer im herren; die ser betriept Rachelv weinet und wurt weinen und ungetröst pliben biß zum ennd, dan nit allein jre kinder, sunder jr mann, den sy lieb hat gehapt, ist nyme.43 O Got, hilff, hilff!

(Adressierung:) | 71r | Den erwürdigen vnd gottsförchtigen herrn Martinus Butzerus vnd Paulus Fagius, mein lieben herrn vnd sondern fründen, jezt in England, zu iren eigenen handen.


a Simler und Baum haben unabhängig voneinander das seit 1870 verlorene Original in Straßburg, ehem. Bibliothèque du Séminaire Protestant, Codex Ulstetter, p. 339. 346 (genaue Angabe nach Simler), abgeschrieben. McKee, Zell 2, S. 111 Anm. 65 vermittelt den falschen Eindruck, als ob Baums Kopie auf Simler basiere. Beide Abschreiber haben an unterschiedlichen Stellen inhaltlich relevante Fehler gemacht. Baums Text ist geringfügig besser und wird daher der Edition zugrundegelegt, muss aber an einigen Stellen durch Simler korrigiert werden.
b konj. für: üwern – Bei b unklar: üwere oder üwern. McKee liest üwern.
c–c a; zweymal b, McKee.
d a; mit dem b.
e–e b; waß heisset a.
f b; das a.
g b; füret a.
h–h a; wirt mit mir wellen b, McKee.
i In b ist dies erst am Ende hinter einem Sternchen nachgetragen, doch findet sich kein Pendant zur Einweisung im Haupttext. McKee, Zell 2, S. 112 Anm. 73 und S. 114 Anm. 85 fasst den Nachtrag von b als Postskriptum auf, doch zeigt der Vergleich mit a, dass es sich in b nur um die Ergänzung einer versehentlichen Auslassung des Abschreibers handelt.
j b; findet a.
k b; langer a.
l b; gon a.
m a; fehlt in b.
n b; mit a – In b korr. aus mit.
o danach in b: mit.
p b; Pilgern a.
q a; mins b.
r b; derer a.
s–s a; das ander b.
t a; das b.
u b; gatte a.
v konj. für: Roachel – b liest stachel, von dort übernommen von McKee.

1Bucer und Fagius waren im Zusammenhang mit der Einführung des Augsburger Interims in Straßburg am 2. März 1549 entlassen worden. Vgl. Pol. Cor. IV/2, S. 1144 Anm. 2. Am 5. April hatten sie die Stadt verlassen und waren durch Frankreich nach England gereist, wo sie am 25. April beim Erzbischof von Canterbury in Lambeth Palace eintrafen, der sie eingeladen hatte. Vgl. Crusius, Annales Suevici, 1596 (VD16 C 6103), S. 672f.; Röhrich, Geschichte 2, S. 207f.; Janelle, Le voyage, S. 164-174; Greschat, Bucer², S. 252f.
2zu einem Mal (zugleich).
3McKee, Zell 2, S. 111 Anm. 66 verweist auf Bucers Brief an Zell vom 13. Mai 1549 (Brief-ID 56139; Pollet, Correspondance 1, S. 254f.). Doch ist der Zeitraum vom 13. bis zum 25. Mai für die Briefbeförderung aus England recht kurz und es ist außerdem anzunehmen, dass Bucer am 22. April 1549 auch an Zell einen Brief schrieb (s. unten Anm. Anm. 12).
4schwach, gebrechlich, krank, verzagt. FWB 4, Sp. 634f.
5und fast nicht (und kaum).
6heische (begehre). FWB 7, Sp. 1597 mit Sp. 1593. DWB 10, Sp. 897.
7matt, schlaff, lasch. FWB 9/I, Sp. 287f.
8S. unten Anm. Anm. 43.
9denn (dann, so). FWB 5/I, Sp. 124.
10Imperativ Pl.
11einsamen. FWB 5/II, Sp. 2396.
12Im Brief an Konrad Hubert und Christoph Söll vom 22. April 1549 (Brief-ID 14864), nicht im Brief an Zell vom 13. Mai 1549, wie McKee, Zell 2, S. 111 Anm. 69 annahm. S. oben Anm. Anm. 3.
13Mt 9,37; Lk 10,2.
14So beurteilte Zell die kirchliche Situation in Straßburg, noch bevor die Bestimmungen des Interims umgesetzt worden waren. Ein besonderer Stein des Anstoßes war erst Monate später die Wiedereinführung der Messe im Münster. Vgl. Pol. Cor. IV/2, S. 1207-1270.
15Vgl. Eph 5,16.
16Vgl. Zell an Konrad Pellikan, 4. Januar 1549 (McKee, Zell 2, S. 107, Z. 9): O gott, werent wir alle jnn der ersten hitz und yfer hin ganngen. Vgl. Offb. 2,4.
17Vgl. Gen 2,7.
18Diese Aussage fehlt in Bucers Brief vom 13. Mai 1549. S. oben Anm. Anm. 3.
19im Meer.
20Vgl. Hiob 38,16; Jes 55,9.
21Gott.
22sei.
23Simeon Empfinger († 1565), seit 1542 Vergichtschreiber. Vgl. McKee, Zell 2, S. 110 mit Anm. 64; Ficker/Winckelmann, Handschriftenproben I, Nr. 29.
24Geheimer Aufenthalt in Katharina Zells Haus ab dem 1. April bis zur Abreise. Vgl. Crusius, Annales (s. oben Anm. Anm. 1), S. 673.
25verabschieden, etwa durch ein Abschiedsmahl. DWB 12, Sp. 804f.; FWB 9/I, Sp. 1055f.
26Margaretha Empfinger, geb. Schwencker. Vgl. McKee, Zell 2, S. 110 Anm. 64.
27Theophilus Empfinger, sonst unbekannt.
28Krankenlager. FWB 9/I, Sp. 633.
29Konrad Hubert (1507-1577). Überlieferte Briefe Huberts im April/Mai 1549 an Bucer und Fagius sind Brief-ID 14877, 15017 und 54828. Vgl. auch Marbach an Fagius, 25. Mai 1549 (s. unten Brief-ID 15018).
30Dieser Brief ist nicht überliefert.
31Da im Folgenden von Goldstücken die Rede ist: portugiesische Cruzados? Kreuzer im Gegenwert zweier Goldstücke (vgl. McKee, Zell 2, S. 112 Anm. 77) kommen wohl nicht in Frage.
32Matthäus Zell (1477-1548). S. unten Anm. Anm. 43.
33Vgl. Gen 42,25.
34unbekannte Glaubensflüchtlinge.
35Die männliche Form bezieht sich wohl auf den Namen der Münze.
36geudig (übermäßig großzügig, verschwenderisch). FWB 6, Sp. 1773; Schweizerisches Idiotikon II, Sp. 125f. (s. v. güdig).
37bedürfen (benötigen).
38Familienangehörige. DWB 26, Sp. 456. Die Familien Bucers und Fagius’ waren in Straßburg zurückgeblieben. Die Ehefrauen Wibrandis Bucer und Agnes Fagius reisten mit ein bis drei Töchtern nach dem 10. September nach England. Ein Jahr später reiste Wibrandis zurück nach Straßburg und brachte weitere Angehörige nach England. Vgl. Brief-ID 15028, 14881, 14889, 58642, 39980, 67956, 55564 und s. unten Brief-ID 44578; Staehelin, Briefe Oekolampads 2, S. 818-822 (Nr. 1002), S. 825f. (Nr. 1006), S. 827-833 (Nr. 1007).
39Imperativ Pl.
40Valérand Poullain († 1558), ehemals Pfarrer der französischen Fremdengemeinde in Straßburg, war mit Bucer und Fagius nach England gegangen.
41Petrus Martyr Vermigli (1499-1562), ehemals Professor in Straßburg, war bereits 1547 nach Oxford gewechselt.
42Catherine Vermigli, geb. Dam(p)martin († 1553). Vgl. McKee, Zell 2, S. 113 Anm. 82.
43Nach Jer 31,15: Rahel weint über ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen über ihre Kinder; denn es ist aus mit ihnen. Zell hatte zwei Kinder, die schon vor Jahren verstorben waren, das erste 1527. Vgl. Grabrede Zells von 1548 in: McKee, Zell 2, S. 86. Matthäus Zell war bereits am 9. Januar 1548 gestorben. Auch in den anderen beiden bekannten Briefen Zells zwischen 1549 und 1553 drückte sie in der Unterschrift ihre Trauer über den Tod ihres Mannes aus. Vgl. McKee, Zell 2, S. 109 und 153.
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